Sonntag, 6. September 2020

zwei

Der Herbst kommt näher. Mit jeder Faser meines Körpers kann ich ihn spüren. Der kalte Wind berührt vorsichtig meine Haut und legt sich unter die Kapuze meines Hoodies. Es ist 4.28 Uhr und ich wandere durch die verschlafenen Straßen meines Zuhauses. In der linken Hand trottet, leicht verschlafen mein Hund neben mir her. Seine gleichmäßigen Schritte beruhigen und durchbrechen die stille der Nacht. Nachdenken. Ruhe finden. Innere Ruhe, nur dieser Moment. 

In den letzten Wochen und Monaten ist vieles passiert. Einiges davon noch immer in Bearbeitung. Aber, wo fange ich an? 

Meine Mom, die einst immerzu darauf bedacht war ihr wahres selbst niemals in die Öffentlichkeit zu bringen, versendete nun Briefe von einem Anwalt mit Wahnvorstellungen darin. Sie implizieren Gewaltandrohungen, Vorwürfe und Lügen. Sie machen deutlich wie tief sie diese Krankheit nach all den Jahren beherrscht. Für mich nichts neues. Doch die Außenwelt ist teils erschüttert. Niemals hätte man damit gerechnet, das sie auch andere Menschen als mich und meinen Dad angreifen würde und doch tat sie es nun. Ich lernte eins sofort. Menschen helfen erst dann, wenn sie selbst involviert sind. Wenn es um sie geht, können sie die Augen plötzlich nicht mehr verschließen. Müssen dem Leid gezwungenermaßen in die Augen sehen. Sie Leiden. Und nehmen mir Leid ab. Meine Tante leitete rechtliche Schritte in die Wege. Das führte uns soweit, das wir einen Beratungstermin bei ihrem Anwalt wahrnahmen der mit uns einen Fahrplan erarbeitete. Der einzige Weg meiner Mom in diesem Leben helfen zu können wäre, rein rechtlich gesehen, ein gesetzlicher Betreuer für Gesundheit und Finanzen. 

Also entschieden wir uns dazu dies zu beantragen. An einem Donnerstagabend versammelten wir uns bei meiner Tante und versuchten all die wirren Dinge der Jahre zu sortieren und auf Papier zu bringen. Nicht das ich darin schlecht wäre, aber es viel schwer. Es ist schwer darüber zu sprechen. Selbst dann, wenn ich begreife, das ich seit dem 10.11.2014 nicht mehr bei ihr lebe. Fast sechs Jahre. Doch auch sechs Jahre reichen nicht aus um zu vergessen. Wir sitzen an einem langen Tisch, alle erzählen ihre Erinnerungen und ich sitze da. Plötzlich sind alle Augen auf mich gerichtet und sie erwarten das ich erzähle. Ein Gefühl ausgeliefert zu sein macht sich in jeder Zelle meines Körpers breit. Mir wird übel. Ihre Augen starr auf meine Lippen gerichtet. Beginnen wir mit der Wahrheit. "Es fällt mir schwer darüber zu sprechen." sage ich, doch da bricht das ewige Tränenmeer schon aus mir heraus. In genau diesem Moment wurde es mir bewusst, vor Gericht muss man sprechen. Ich würde sprechen müssen. Panik macht sich in mir breit. Ein Tornado tobte in meinem inneren. Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Das was wohl allen klar gewesen war und offensichtlich auf der Hand lag, würde mir in dieser Sekunde schmerzlich bewusst. Und ich begriff warum sie mich alle so ansahen. Ich war der Schlüssel. Die Wahrheit über meine Mutter direkt von mir zu hören würde das Gericht vielleicht soweit überzeugen. Das eigene Kind lehnt sich gegen die psychisch kranke Mutter auf. Das war es was sie wollten, während ich nur daran dachte mich in meinem Kokon zu verstecken. Eingehüllt. Ohne all diese Sorgen und Gedanken. In der Nacht nach diesem Gespräch schlief ich schlecht. Immer wieder hallten die Worte meiner Familie in meinem Kopf umher: "Du musst dich vorbereiten. Wir wissen das es nicht einfach für dich ist." Mittlerweile fühlte sich dieser ganze Antrag an, wie eine Raubtierfütterung und ich war das leblose Stück Fleisch, das man den Tieren zum fraß vorwarf. Dem Richter zum fraß vorwarf. War es all das Wert. Sollte ich mich, wieder einmal, opfern damit meine Mom die Chance auf ein besseres Leben bekam? 

Dieses eine mal würde ich mich selbst nicht Opfern. Ich beschloss, zu erzählen was mir möglich war. Einschätzungen abzugeben und auf Fragen zu antworten. Aber ich würde nie wieder, all die Wunden Öffnen, die ich gerade erst verschlossen hatte. 

Wie beschreibt man Jahre voller psychischer und physischer Gewalt. Wie beschreibt man es mehr erwachsen als Kind sein zu dürfen. Wie beschreibt man eine verwahrloste Wohnung und Alkohol in Kombination mit Müll an jedem noch so irrationalen Versteck. 

Wie beschreibe ich, was sie mir in all den Jahren alles genommen hat, wenn es doch nur eine Antwort gibt, die so simpel ist, das sie mich förmlich anspringt. Sie nahm mir mein Leben, meine Jugend und die Hoffnung. Nahm mir die Fähigkeit zu Vertrauen und ließ mich den Glaube an die Menschen verlieren. Aber am aller meisten ließ sie mich, meinen eigenen Glauben an mich selbst verlieren. Bei allem was ich in den letzten Jahren verloren habe ist das bei weitem der schlimmste Verlust. Mich selbst zu verlieren, gehörte zu dem Prozess und ich versuche noch immer mich irgendwo in all dem wieder zu finden. 

Doch das Gefühl ihr niemals entkommen zu können wird immer Stärker. Vor sechs Jahren dachte ich, dass ich mit der Flucht vor ihr nun endlich die Chance hätte auf ein Gewaltfreies Leben. Ich wollte mich nicht um sie kümmern, nicht an sie denken, nicht ihren Namen aussprechen. Wollte einfach vergessen. Und doch schaffte sie es, immer wieder, sich einen Weg zurück in mein Leben zu bahnen. Telefonterror, Sms. Anrufe von anderen Telefonen und bekannten Menschen, damit ich sie nicht wegdrückte. Sie nutzte jede Chance auf ein Gespräch und die Möglichkeit, mir wieder einmal zu sagen was für eine Versagerin ich bin. 

Schlussendlich weiß ich heute wer die wahrhaftige Versagerin ist.

Und soviel kann ich sagen, ich bin es sicherlich nicht. 

Doch auch dieses Wissen hält die Albträume nicht auf. Ich wach oft auf. Mitten in der Nacht und bin schweißgebadet. Immer mit dem Gefühl mein Herz würde mir gleich aus der Brust springen. Denn es hüpfte, jedoch nicht vor Freude. Atmen fällt schwer in solchen Momenten. Es ist die Angst, die mich auch heute noch am meisten Verfolgt. Wenngleich ich in den meisten Momenten mehr Freund als Feind mit der Angst bin. In den Momenten der unaufhaltsamen Hingabe, nämlich dann wenn man nicht mit ihr rechnet, überfällt sie einen. Raubt einem den Atmen und macht es schwer jemals wieder einzuschlafen. Manchmal helfen ätherische Öle, manchmal auch nur das Wissen eine Schlaftablette zu schlucken und darauf folgend endlich Schlaf zu finden. Deshalb bin ich müde. So oft, so müde. Müde vom Leben, vom Kämpfen und vom Reden. Die Aussicht darauf jemals wieder richtig wach zu werden bleibt vorerst aus. 

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